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In einer fremden Stadt...


In einer fremden Stadt, in einem fremden Land
Thomas Ligotti
Blitz-Verlag, Windeck 1999

L

ange hat es gedauert, aber das Warten hat sich gelohnt: dieser erlesene Band vom modernen "Meister des Grauens", geschmückt mit Bildbeigaben von H. R. Giger, signiert von selbigem und natürlich Ligotti selbst, limitiert und numeriert und nicht im Buchhandel erhältlich... er hat es zu mir geschafft und wurde rasend schnell verschlungen...

Vier Geschichten enthält der Band, die allesamt in einer dubiosen "nördlichen Grenzstadt" spielen, wie sie nur genannt wird, ohne dabei jedoch in die trägen und zu gut bekannten Gefilde eines Castle Rock oder Derry abzugleiten. Die nördliche Grenzstadt bleibt immer die fremde Stadt. In einem fremden Land, denn aus nichts läßt sich wirklich Rückschluß auf die geographische Lage ziehen. Wirklich wichtig ist das aber auch tatsächlich nicht, denn diese Stadt könnte es überall geben. Oder GIBT es sie gar überall?

"Sein Schatten wird zu einem höheren Haus aufsteigen"
In der ersten Geschichte folgen wir den Gedanken des Erzählers über diese Stadt, ihren Friedhof und jemanden, der dort begraben wurde. Ein deformierter, "kontemplativer", wie der Erzähler immer wieder betont, Einsiedler, der beinahe völlig unbeachtet blieb, bis in den Tod.
Als es später zu Gerede über ein "verschollenes Grab" kam, an dessen Stelle sich nun nur unberührte Erde befindet, zog zunächst keiner eine Verbindung zu Ascrobius, dem Einsiedler. Ein Gentleman namens Dr. Klatt äußerte zuerst diese Vermutung und wurde mit seinem Wissen (oder seiner Hochstaplerei?) über Ascrobius zur bekannten Persönlichkeit in der nördlichen Grenzstadt. So erklärt er, daß Ascrobius kein Heilmittel für seine Krankheit suchte, sondern für die absolute Annullierung seiner gesamten Existenz...
Eine ausgezeichnete, morbide und durch und gekonnt beiläufige Schilderung merkwürdiger Umstände in dieser Stadt (so spricht Dr. Klatt z. B. bei "flackernder Behelfsbeleuchtung der Fabrikruine" zu den Einwohnern) wirkungsvoll in Szene gesetzte Schauergeschichte, die einen ersten Blick auf diesen merkwürdigen Ort gewährt, und einige seiner Bewohner, die wir noch in den anderen Geschichten näher kennenlernen werden. Auffallend Ligottis häufige Verwendung bestimmter Worte, wie "kontemplativ" oder "diffus". Erinnert an Lovecraftsche "blasphemisch"-Eskapaden, nur auf unbestimmte Weise viel beunruhigender...

"Die Glocken werden auf ewig klingen"
Was wie "Forrest Gump" auf einer Parkbank beginnt, ist die Schilderung eines Handelsreisenden, der unsere nördliche Grenzstadt besucht und in der Pension von Mrs. Pyk unterkommt. Ein unsäglicher Drang, vielleicht hervorgerufen durch die Umgebung, treibt den neugierigen Mann des Nachts auf den Dachboden des großen Hauses. Utensilien von Mrs. Pyk lagern hier, und etwas, das einen geradezu sexuellen Reiz auf den Mann auszuüben scheint: ein Narrenkostüm. Ist das folgende nun Realität oder Traum? Fest steht, daß die Pension nur kurze Zeit nach seiner Abreise abgebrannt ist, und sich überall im weitläufigen Haus, in den Zimmern verbrannte Leichen wiederfinden, die offenbar in seltsame Kostüme gekleidet waren,...
"Absolut grotesk" - so drückt es der Handelsreisende in der Geschichte selbst aus. Nur so kann auch die Szenerie beschrieben werden, wie er im Narrenkostüm vor dem alten Spiegel auf- und abtanzt und Grimassen schneidet, ein befremdendes Verhalten in beunruhigend vernünftiger Schilderung. Warum verhält er sich so?

"Eine leise Stimme flüstert nichts"
Eine clownhafte Gestalt zieht durch die Straßen der Stadt, gefolgt von in Lumpen gehüllte Gestalten, die einen Karren ziehen auf dessen Plattform Holzpfähle einen Käfig bilden, geschmückt von einem absurden Sammelsurium von Gegenständen, Schuhe, Puppen, Knochen, Flaschen, ein Hundekopf...
Das ist es, was der Protagonist in der nördlichen Grenzstadt sieht, und wieder ist es ein Doktor, der seinem Leben ein Ende setzt ob des Wahnsinns in dieser Stadt - oder aus welchen Gründen auch immer...
Psychologisch außerordentlich interessant, besonders die Worte jenes Doktors, die er spricht, wenn er den Protagonisten, einen kranken Jungen, schlafend wähnt. Wie immer skurille Gestalten und Andeutungen, bei denen das was man sich dabei denkt (oder denken kann) schlimmer ist als was geschrieben steht. In meinen Augen eine Story mit Bezug zur Person Lovecrafts, ein ebenfalls kränkliches Kind, allerding hatte dieser entgegen dem Protagonisten der Story eine Aversion gegen Kälte.

"Wenn du das Singen hörst, wirst du wissen, es ist Zeit"
Erstmals erfahren wir hier von der "anderen Stadt" - der Begriff, den die alten Leute lieber verwenden als die "alte Stadt" oder "Dämonenstadt", die über Schwellen und Zugänge erreicht werden kann, und immer mehr von den Einwohnern zu sich lockt. So sind schließlich, als Ermittler der Regierung die nördliche Grenzstadt von "vergifteten Elementen säubern wollten", nur noch einige brabbelnde Hysteriker und Hochstapler in der Stadt, von der ihrer Meinung nach "keine Gefahr ausgehe".
"Was immer diese Stadt gewesen ist, oder gewesen zu sein scheint - sie war stets eine Quelle der heimtückischsten Illusionen."

FAZIT:
Man kann Ligotti nicht beschreiben, man kann ihn auch nicht lesen - man erfährt ihn, am eigenen Leib, eiskalt und schaudernd und höchst anspruchsvoll. Definitiv keine leichte Literatur, sondern die Oberklasse modernen Horrors und ein Muß für Leute, die einen Blick hinter die Fassade des alltäglichen Wahnsinns werfen möchten.

Die limitierte Auflage von nur 350 Stück dürfte es trotz des nicht geringen Preises von knapp 70 DM schwierig machen, noch ein Exemplar zu ergattern. Wer jedoch eines kriegen kann, sollte es kaufen - es gibt derzeit nichts unheimlicheres auf dem Markt, und wird es auch lange Zeit nicht geben...

Ingo Ahrens

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