erlin - Im Herzen der grossen Stadt" ist der
erste Band einer Reihe von Publikation aus dem Hause Pegasus, dem hiesigen
Heim für Cthulhu, die sich speziell mit Quelleninformationen und
Abenteuern im Deutschland der 1920er Jahre befassen.
Der Band folgt dem von "In Labyrinthen" vertrauten Schema:
Zwei (langen) Abenteuern werden einige Seiten mit Quelleninformationen,
in diesem Fall über das Berlin in den 1920ern, vorangestellt. Dieser
Artikel ist sehr aufschlussreich und für einen Spielleiter, der
seine Kampagne dort ansiedelt, überaus hilfreich - nur leider etwas
kurz. Hier hätte ich mir schon etwas mehr gewünscht.
"Der Tanzende Faun", das von Wolfgang
Schiemichen beigesteuerte Abenteuer, fügt diesen Infos (übrigens
ebenfalls von Wolfgang) allerdings noch eine Menge weitere zu, und das
auf, vorab gesagt, unterhaltsame Weise. "Faun" ist ein leicht
frivol angehauchtes Abenteuer, das die Spieler ein wenig von der Verruchtheit
der Stadt zu dieser Zeit schnuppern lässt. Einer von ihnen, oder
gar mehrere, verlieben sich unsterblich in die faszinierende Nachtclubtänzerin
Thea Liebreich - und erlebt ein böses Erwachen, wenn er eines Morgens
nach geglückter Eroberung neben einer Toten liegt, offensichtlich
von ihm selbst ermordet. Die Flucht vor der Polizei, Kriminellen, einem
wahnsinnigen Attentäter, der sie für Kultisten hält,
und Kultisten selbst führt sie schließlich nach Italien.
Dort kommen sie dahinter, wer Thea Liebreich wirklich war - etwas ganz
und gar nicht menschliches, und beim Finale haben sie nicht unbedeutende
Entscheidungen zu treffen...
Wolfgang schreibt hier einen gewöhnungsbedürftigen, leicht
umständlichen, aber sehr unterhaltsamen Stil. Unter diesem allerdings
leidet die Übersicht, zum Nachteil des Spielleiters, der beim Nachschlagen
von Informationen das eine oder andere Mal recht hilflos blättern
wird und sich im atmosphärischen Schreibstil verliert.
Das Abenteuer selbst ist originell und anspruchsvoll, keinesfalls hastig
heruntergeschriebene Massenware, sondern mit vielen Wendungen, interessanten
Nichtspielercharakteren (von denen das Abenteuer hauptsächlich
lebt) und einer Menge Interaktion. Das täuscht aber nicht darüber
hinweg, das die Detailtreue bei den puren Informationen (Spieler wollen
bekanntlich immer alles ganz genau wissen) zu wünschen übrig
lässt. Auch wirkt das Kapitel in Turin am Ende etwas aufgesetzt
und gewollt; in meiner Gruppe würde ich es weglassen oder so verändern,
das diese Ereignisse in Berlin oder zumindest Deutschland spielen.
Fazit: Schwierig, aber unterhaltsam zu lesen, originell - aber sehr
vorbereitungsintensiv durch die notwendige Aufbereitung (Herausschreiben)
der Informationen und ggf. Ergänzung derselben. Sehr gute Einbindung
des Geschehens in die damalige Zeit, viel Raum für Rollenspiel!
"Jahrhundertsommer" stammt von Jan-Christoph
Steines und hat selbst eine längere Entstehungsgeschichte, die
bis in die alten Laurin-Zeiten zurückreicht. Die dadurch für
Überarbeitungen zur Verfügung stehende Zeit wurde augenscheinlich
sehr gut genutzt.
Der "Jahrhundertsommer" des Jahres 1926 bescherte Berlin wahrhaft
höllische Temperaturen, unter denen auch die Charaktere auf ihrer
Suche nach Valeska Loeschke zu leiden haben, einer verschwundenen jungen
Immobilienmaklerin, angestellt bei der Agentur eines Freundes. Die Recherchen
decken schließlich auf, das der "Entführer" ihr
im Grunde nichts Böses will, sie vielmehr von ihren wirklich finsteren
Verfolgern in Sicherheit bringen wollte, Anhängern des Grossen
Alten Swarog. Die Verwicklungen reichen zurück bis nach 1900 zur
Geburt Valeskas, die unter ganz besonderen Umständen erfolgte,
an einem ganz besonderen Ort. Die Spieler führen die Ereignisse
dann an die Ostsee, wo es den Plan der Kultisten zu vereiteln, und Valeskas
Leben zu retten gilt...
Ein klassisches Recherche-Abenteuer, in dem es viel nachzuforschen und
aufzudecken gilt. Trotz der Länge wird dieses Abenteuer, entgegen
meiner ersten Befürchtung, jedoch keineswegs unübersichtlich.
Dies liegt zum einen an der lobenswerten inhaltlich nach Themen geordneten
Übersicht mit Seitenzahlen was sich wo finden lässt. Zum anderen
schreibt der Autor sehr klar und verständlich, sehr sachlich, ohne
auf augenzwinkernden Humor hier und da zu verzichten. Viele Abschnitte/Kapitel
enden mit einem Absatz "Was geschehen ist" o.ä., in dem
die Geschehnisse an einem Tatort oder einer Szenerie VOR dem Eintreffen
der Charaktere beschrieben werden. Diese Informationen werden in der
Regel kaum den Spielern bekannt werden, handelt es sich meist um Aktionen
der beteiligten Nichtspielercharaktere, des Entführers und der
Kultisten. Eine Beschreibung derselben hilft dem Spielleiter aber ungemein
beim Verständnis der Abläufe und Hintergründe! Auch wenn
dem einen oder anderen Jans Schreibstil vielleicht etwas trocken anmuten
mag, gerade im Vergleich zu Wolfgangs "blumigem" tanzenden
Faun, ist er aus Spielleitersicht optimal zu nennen. Das Abenteuer ist
zwar von der Geschichte her recht konventionell, aber mit ausreichend
originellen Wendungen und Wirrungen versehen, welche die Spieler in
Atem halten ohne dabei unfair zu werden. Etwas unpassend wirkt einzig
das Intermezzo im Zoo; meiner Ansicht nach etwas unwahrscheinlich, das
Kultisten zu einer so unsicheren Methode greifen, um neugierige Investigatoren
loszuwerden...
Fazit: Sehr flüssig zu lesen, quasi "in ein's durch".
Die Übersichtlichkeit verdient besonderes Lob, in dieser Hinsicht
eine echte Referenz! Klassisches Detektivabenteuer mit viel Hintergrundgeschichte
und Interaktion, das sich an bekannte Muster (Stichwort "Cthulhu-Matrix")
hält.
Optische Präsentation:
Der Umschlag wurde im mittlerweile bekannten Stil gefertigt, der Titelschriftzug
ist diesmal sogar gut lesbar (yay!) ;-). Im Inneren finden sich atemberaubende
Kapitelillustrationen von Francois Leunet (??), leider viel zu wenig
(mehr mehr!), und die üblichen zeitgenössischen Fotografien.
Neu sind dagegen die hervorragenden, künstlerisch aufwendig gestalteten
Grundrisse und Karten von Örtlichkeiten, und natürlich der
beigelegte, faltbare Nachdruck eines original alten Berliner Stadtplans
(bitte bitte, sowas muss STANDARD werden!). Schade nur, das dieser etwas
SEHR fest hinten im Einband angeklebt war, Perforierung (wenn man davon
überhaupt sprechen kann) hin oder her, mir hat's fast den ganzen
Einband zerrissen...
Besondere Erwähnung verdienen die Handouts - wundervoll! Massenweise
Material findet sich hier im Anhang zu den Abenteuern. Erstmalig wurden
dabei einige (leider nicht alle) der Manuskripte, Zettel, Notizen etc.,
welche die Spieler im Laufe der Abenteuer finden können, nicht
einfach mit mittlerweile sattsam bekannten Schriftarten am Computer
erstellt, sondern VON HAND geschrieben! Authentischer geht es wohl gar
nicht mehr... habe ich persönlich bisher niemals solche Handouts
verwendet, sondern immer selbst abgeschrieben, werde ich diese garantiert
original (bzw. in Kopie) meinen Spielern aushändigen. Unbedingt
beibehalten!
Fazit:
"Berlin - Im Herzen der grossen Stadt" setzt die Messlatte
für zukünftige Cthulhu- und sonstige Rollenspielpublikationen
ein gehöriges Stück höher! Sehr erfrischend ist das Setting
im Deutschland der 1920er Jahre, welches überaus überzeugend
sowohl den beiden Abenteuern gelingt, aber auch der einleitende Artikel,
trotz seiner relativen Kürze, ist hochgradig informativ und verwertbar.
Es wäre aber nicht schlecht, den Hintergründen in zukünftigen
Bänden etwas mehr Umfang zu widmen.
Mit diesem Quellenband bringt Pegasus endlich wirklich frischen Wind
in die Cthulhu-Szene, die doch schon etwas sehr in den mittlerweile
sattsam bekannten amerikanischen Neu-England-Settings eingestaubt ist.
War es für mich vorher unvorstellbar, meine Spielgruppe mit Abenteuern
in Deutschland zu beglücken, habe ich mir genau dieses jetzt ganz
fest vorgenommen und stelle dafür sogar die Nyarlathotep-Kampagne
zurück.
Geht es in dieser Qualität weiter, ist mir um das deutsche Cthulhu
nicht bange. Wer diesen Band nicht kauft, soll sich von Sandgehern fressen
lassen! Fairer Inhalt zu einem fairen Preis!
Ingo Ahrens
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