Aktuell Historie
Berlin - Im Herzen der grossen Stadt ... Clark Ashton Smith: Necropolis (Roman)
Patrick Grieser: Venusfliegenfalle (Erzählungen) ... Thomas Ligotti: In einer fremden Stadt, ... (Erzählungen)
Eddie M. Angerhuber: Das Anankastische Syndrom (Erzählungen) ... In Labyrinthen - Dunkle Pfade im Osten
Basil Copper: Die Eishölle (Roman) ... Amerika - In Städten und Wäldern (Rollenspiel)
Graham Masteron: Die Opferung (Roman) mehr im Archiv

Last Rites


Last Rites
- Sinister Visitations in the Present-Day -
Ian Winterton Chaosium 1999
Kaufen

D

a sich der verehrte Herr und Meister dieser Seiten, Ingo, derzeit den wichtigeren Dingen des Lebens widmet (sprich: er schreibt ein würdiges Szenario zur Teilnahme am Hannover-Spielt-Wettbewerb (Anm. d. Red.: Nicht mehr; das Abenteuer ist zu gut, um auf nur 16 Seiten gequetscht zu werden! Daher wird es jetzt richtig ausführlich geschrieben und irgendwann irgendwo ganz sicher veröffentlicht)), habe ich die verdienstvolle Aufgabe übernommen, einen näheren Blick auf den mittlerweile nicht mehr ganz druckfrischen Band "Last Rites" zu werfen.

Dieser Blick fällt naturgemäß zunächst auf das Cover, das ich für durchaus ansprechend und stimmungsvoll halte. Befremdlicherweisehat sich Chaosium übrigens noch nicht dazu entschließen können, die "1990s"-Markierung durch eine aktuellere Fassung wie "Present" auszutauschen (was etwa bei den Charakterbögen schon geschehen ist). Nichtsdestotrotz läßt sich den Jahresangaben in den vier kurzen Abenteuerszenarios dieses Bandes entnehmen, daß man ganz aktuell vom Jahr 2000 ausgeht. Immerhin.
Die innere Gestaltung des Bandes bietet keine Überraschungen, wie gewohnt ist alles übersichtlich angeordnet und mit Zeichnungen und Handouts aufgelockert. Sämtliche Handouts finden sich in einer gesonderten Handout-Sektion wiederholt. Während das für den Spielleiter durchaus eine Erleichterung ist, muß doch festgestellt werden, daß auf diese Weise kostbarer Platz vergeben wurde, der andernorts offenbar gefehlt hat, wie aber später noch näher zu erläutern sein wird.
Vier Szenarios aus der Feder eines einzigen Autors, recht beachtlich, durchaus, aber wenn man die Bilder, die gelegentlich eine ganze Seite einnehmen, abzieht, und auch die Pläne, dann bleiben pro Abenteuer nur noch etwa 8-10 Seiten Text übrig. Von den 60 Seiten des Bandes gehen tatsächlich 6 für die Handoutsektion drauf und über 11 für Karten und Bilder. Und die Seitenzählung beginnt erst bei 5...

Last Rites

Das erste Szenario hat dem gesamten Band auch gleich den Titel verliehen. Es wird als ideales Einstiegsszenario angepriesen, was sich aber nur auf die Investigatoren beziehen kann, nicht etwa auf den Spielleiter, der für einen erfolgreichen Abschluß dieses Abenteuers nicht nur über eine gehörige Portion Erfahrung als Spielleiter verfügen muß, sondern auch noch rollenspielfreudige Spieler vor sich sitzen haben sollte.

Die Handlung ist schnell erzählt: Eine Frau erweckt ihren toten Vater gleich nach dessen Beerdigung als Zombi wieder zum Leben und hetzt ihn auf eine Gruppe von Kultisten aus Rache dafür, daß diese ihre kleine Schwester ermordet hatten. Die Investigatoren sind nun Gäste auf der Beerdigung und müssen das Verschwinden der Leiche aufklären sowie die Mordserie beenden.

Nicht wirklich originell, aber man hat schon Ideenloseres gesehen. Es wird auch vom Autor selbst ganz deutlich gemacht, daß das Abenteuer (fast) ausschließlich vom Rollenspiel lebt. Handlungsort ist ein winziges Dörfchen an der amerikanischen Ostküste, wo jeder jeden kennt. Und so sind die wichtigsten Persönlichkeiten des Ortes kurz mit ihrer jeweiligen Motivation dargestellt. Zudem wird dem Spielleiter ein Überblick über den weiteren Ablauf des Szenarios gegeben.

Großer Schwachpunkt des Szenarios ist ganz klar dessen Kürze. Wenn der Schwerpunkt auf Rollenspiel liegt, ist es eben nicht unbedingt ausreichend, die beteiligten NSC mit nur einem oder zwei Sätzen zu beschreiben. So bleibt der Hauptteil der Arbeit am Spielleiter hängen. Nicht einmal Raumbeschreibungen werden ihm geliefert, was mit "none of the rooms contain things of importance" abgetan wird. Etwas schwach, finde ich.

Fazit: Wirklich nur ein "Szenario", schwerlich ein fertiges Abenteuer. Der Spielleiter muß nicht nur gutes Rollenspiel mit 16 NSCs zustandebringen, er muß zugleich noch die Lücken im Abenteuer mit eigenen Ideen und Beschreibungen schließen. Somit liegt es auch ganz überwiegend beim Spielleiter, ob das Abenteuer für alle Beteiligten zu einem erfreulichen Spielabend führt oder ob Frustration vorherrscht.

Lethal Legacy

Wesentlich erfreulicher ist da das zweite Szenario des Bandes, "Lethal Legacy". Interessanterweise spielt es im Arkham der Gegenwart, so daß man seinen Stadtplan aus "Arkham Unveiled" zücken kann, oder immerhin auf den Plan aus dem 5.5er Regelbuch zurückgreifen kann. Schade nur, daß mit keinem Wort erwähnt wird, wie es heutzutage in Arkham aussieht. Das bleibt wohl der Fantasie des Spielleiters überlassen.

Auch diesmal ist die Handlung schnell erzählt:
Aus einer Ausstellung in der Miskatonic-Universität ist eine Mumie verschwunden. Ein Video der Überwachungskameras führt die Investigatoren schnell auf die Spur des Diebes. Der hatte aus Rache an seiner Ex-Frau ein Monster beschworen, das eben jene Dame beseitigen sollte. Kurz darauf bereute er seine Handlung aber auch schon wieder, doch um das Wesen aufzuhalten, brauchte er einen magischen Staub, zu dessen Zutaten auch "Mumie" gehörte. Die Herstellung des Staubes gelang auch, doch dummerweise hatte er einen tödlichen Autounfall, bevor er das Monster stellen konnte. Die Investigatoren müssen es nun also selbst in die Hand nehmen, das Biest aufzuhalten.

Zu diesem Szenario gibt es wenig anzumerken. Die Geschichte ist ein bißchen ungewöhnlich und dürfte für die Spieler einige interessante Wendungen bereithalten. Sonst findet der Spielleiter hier ordentliche Standardkost. Er wird hier auch nicht so sehr wie im ersten Szenario im Regen stehengelassen, etwa was die Raumbeschreibungen angeht. Allerdings bleibt es einmal mehr an ihm hängen, mit den gegebenen Personen- und Raumbeschreibungen (sowie natürlich dem Monster, das hier ungenannt bleiben soll) einen spannenden Showdown zu gestalten.

The House on McKinley Boulevard

Wer mich etwas kennt, der kennt auch meine besondere Vorliebe für Abenteuer mit irgendwie "spukigen" Häusern (z.B. "Cracked and Crooked Manse" aus Great Old Ones oder "Cold Spot" aus Coming Full Circle). Und so verwundert es wohl nicht, wenn ich dieses dritte Szenario für den größten Leckerbissen des Bandes halte (was nach dem "altbackenem Brot" des ersten Abenteuers und dem "trockenen Keks" des zweiten auch nicht so schwer ist).

Die Investigatoren werden von einem Rentner angeheuert, um dessen früheres Wohnhaus (eine spätviktorianische Villa, wirklich groß) von einem merkwürdigen "Fluch" zu befreien. Es kam in der Geschichte des Anwesens immer wieder zu Selbstmorden und Irrsinn. Auch die Gattin des Auftraggebers brachte sich dort um. Mittlerweile ist das Haus völlig heruntergekommen und baufällig. Drogensüchtige und Obdachlose haben sich dort einquartiert, sowie eine Art Späthippie-Öko.
Erste Recherchen bringen interessante Details über das Haus zum Vorschein, doch schließlich werden die Investigatoren den Ort des Geschehens selbst aufsuchen. Sie treffen auf die jetzigen Bewohner, müssen sich mit diesen auseinandersetzen, und finden schließlich in geheimen Räumlichkeiten unter dem Abwesen den Grund für die Misere. Und sind hoffentlich erfolgreich in seiner Bekämpfung.

Während ich weiter oben nicht so geizig mit den Details war, mag ich hier nicht mehr preisgeben. In jedem Fall ist dies das lohnenswerteste Szenario des Bandes. Doch wiederum ist die Knappheit ein Problem, so kommt etwa nur in einem Nebensatz mal ein Hinweis darauf, welche Spukeffekte die Investigatoren bei einer Besichtigung bereits selbst erleben.
Der beigefügte Plan des Anwesens wirkt nicht so steril wie es sonst so oft der Fall ist. Hier gibt es auch keine Wohnräume, die mitten im Haus liegen und keine Fenster aufweisen, wie man es noch immer gelegentlich in Rollenspielpublikationen vorfindet. Grund ist, und das sollte doch einmal besonders gelobt werden, daß der Autor hier auf Originalpläne eines spätviktorianischen Anwesens zurückgegriffen hat.

The Priestess

Auch das letzte Abenteuer des Bandes macht einen ordentlichen Eindruck.
Es ist ja quasi nicht möglich, Cthulhuabenteuer zu schreiben, ohne daß das Verschwinden einer Person mit einer gewissen Regelmäßigkeit den Aufhänger des Abenteuers bildet. Meistens ist diese Person Opfer eines Kultes, und die Investigatoren kommen gerade noch zu rechten Zeit, um rettend helfen zu können.
Wir hatten das obligatorische "Person-Suchen"-Abenteuer im vorliegenden Band schon sehnsüchtig vermißt, und Ian Winterton läßt uns auch tatsächlich nicht im Stich: Hier ist es.

Die Polizei einer ungenannten Universitätsstadt bittet um die Mithilfe bei der Suche nach zwei verschwundenen Studentinnen. Es wird befürchtet, daß diese einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind, und diese Befürchtung begründet sich darauf, daß es weit über 100 Personen gibt, die man zu den Feinden der Damen zählen kann. In einem eigenen Verlag hatten sie nämlich einen Band mit "America`s Worst Verse" herausgebracht, gefüllt mit Gedichten, die die Studentinnen auf eine irreführende Zeitungsannonce hin zugeschickt bekommen hatten. Kein Wunder, daß die 128 Autoren verärgert waren, so zum Gespött gemacht zu werden. Unglücklicherweise (für die Frauen) war unter den Gedichten auch ein "Mythosgedicht" im weitesten Sinne, und der Autor, ein Herr aus dem Spektrum, das die Bezeichnung "Kultist" verdient, war über die Blasphemie so wenig erfreut, daß er Entführer anheuerte und die Studentinnen zu sich bringen ließ.
Dies alles erfahren die Investigatoren im Rahmen ihrer Nachforschungen recht bald, so daß sie sich auf den Weg zum Übeltäter machen können, um diesem möglichst noch rechtzeitig das Handwerk zu legen. Es soll nun nicht auf die weiteren Details eingegangen werden, jedoch kann verraten werden, daß sogar eine Zeitreise nach Mesopotamien im Bereich des Möglichen liegt.

Der dröge Aufhänger "Verschwundene Person" ist hier geschickt verpackt in eine originelle Geschichte, so daß der Leser nicht verstimmt wird. Auch sonst ist das Szenario durchaus interessant zu spielen, wobei es gegen Ende wiederum unter der Kürze der Darstellung leidet. So werden die Eigenheiten des Hausherrn nicht näher erklärt, der eine merkwürdige Art von Sammelleidenschaft an den Tag legt, indem er insb. massenweise Möbel in sein Haus stellt. Konstruiert wirkt die Tatsache, daß das Haus des "Kultisten" nur über eine Holzbrücke zu erreichen ist, die über einen Abgrund führt und die, wenn es der Spielleiter will, bald abbrennt, so daß die Investigatoren im Haus gefangen sind. Schade ist auch, daß dem Spielleiter, wie eigentlich in allen Szenarien des Bandes, nur andeutungsweise verraten wird, wie er das Finale im Haus gestalten kann. Auch die Zeitreise wird derart knapp angesprochen, daß der Spielleiter hier praktisch auf sich gestellt ist, diese auszuschmücken.
Aber trotzdem ein ordentliches Szenario.

Schlußbemerkungen

Größter Schwachpunkt aller Szenarien ist der offensichtliche Platzmangel, unter dem der Autor litt. Während für großformatige Zeichnungen und Handoutsektion offenbar kein solcher Mangel herrschte, mußte der Autor ganz offenbar seine Szenarien gehörig zusammenstreichen, was immer dann deutlich wird, wenn etwa in einem Nebensatz relevante Fakten wie selbstverständlich erwähnt werden.
Manchmal ist einfach weniger mehr, und so hätte es der Qualität der Szenarien sicher gutgetan, in einem umfangreicheren Rahmen präsentiert zu werden. Aber das wollte Chaosium dem Publikum nach dem Wälzer der Antarktiskampagne wohl nicht zumuten. Schade.

Negativ ist auch die Einordnung der Szenarien in die Jetztzeit zu beurteilen. Keines der Szenarien könnte nicht genausogut in den 20ern spielen und wäre dort vielleicht sogar athmosphärisch besser aufgehoben gewesen. Mir drängt sich ohnehin der Verdacht auf, daß die Szenarien ursprünglich für die 20er gedacht waren und nur umgeschrieben wurden. So z.B. bei dem Szenario in Arkham.
Es vermittelt nicht 90er Jahre (Pardon: 2000er) Flair, statt einem Brief eine ausgedruckte eMail zu finden, wenn das der einzige moderne Bezug ist (so im 1. Szenario). Auch die Überwachungskameras im 2. Szenario bleiben fast ein Fremdkörper im ganzen Band. Allein die Junkies im 3. Szenario vermitteln mal das Gefühl, nicht in den 20ern zu sein. Etwas dürftig bei einem Band mit vier Abenteuern für die heutige Zeit, möchte ich meinen.

Alle anderen Publikationen für die 90er haben mir besser gefallen als "Last Rites". Richtig schlecht ist dieser neue Band allerdings auch nicht. Wer kein Sammler ist, sondern einfach nur gute 90er Jahre Abenteuer sucht, sollte aber lieber nicht ausgerechnet bei "Last Rites" zugreifen.


Frank Heller

LinkRezensionen-Archiv

 

[Nach oben]

 
Arkham Chronicle - Das deutsche Cthulhu-Fanzine - Home