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Thomas Ligotti: Lovecrafts würdigster Nachfolger?

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ine gewagte Frage, deren Antwort mir jedoch sehr leicht erscheint: Ligotti und Lovecraft haben wenig gemeinsam und sind sich doch so ähnlich. Ligotti schreibt nicht den Mythos fort (Ausnahmen, nämlich einzelne, speziell HPL gewidmete Stories, bestätigen die Regel), den Lovecraft entwickelte, auch sein Stil in der Schilderung von seltsamen Begebenheiten, Personen und Orten ist gänzlich anders (bestenfalls könnte man diesen Stil als eine "moderne" Art des Lovecraftschen, in "moderner" Sprache bezeichnnen, wenn man denn unbedingt vergleichen will).
Somit verbietet sich im Grunde die Bezeichnung "Nachfolger"; vergleicht man dagegen die von beiden Autoren mit ihren Geschichten hervorgerufene Gänsehaut, die unangenehme, den Leser sich unwohl fühlen lassende Atmosphäre, die beim Lesen im Hinterkopf entstehenden Gedanken von etwas "viel Schlimmerem", das nicht ausgeschrieben wird, ist man versucht zu sagen, daß Ligotti dieses von Lovecraft bekannte Feeling zur Meisterschaft gebracht hat. Aber so ganz sicher ob dieser Affinität ist man sich nicht, denn eigentlich ist er doch völlig anders...

Doch wer ist Thomas Ligotti eigentlich?
In Deutschland kennen wahrscheinlich, und leider!, nur vergleichsweise wenig Freunde der phantastischen und unheimlichen Literatur die Werke dieses ungewöhnlichen Amerikaners. Kein Wunder, sind doch auch erst weniger seiner Geschichten in deutscher Übersetzung erhältlich! Zuerst erschien bei DuMont der Band "Die Sekte des Idioten" (1996??), mittlerweile aber längst vergriffen (wer noch eins hat: Will haben!!!!). Erst Frank Festa von der Edition Metzengerstein (jetzt Teil des Blitz-Verlags) ist es zu verdanken, daß Ligotti auch in Deutschland besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
So erschien innerhalb der Edition Metzengerstein der Band "Teatro Grottesco", der, neben einem exzellenten Vorwort von Frank, 12 Kurzgeschichten enthält: "Der rote Turm", "Das Tagebuch des J. P. Drapeau", "Die Bibliothek von Byzanz", "Der Bungalow", "Die Brille im Geheimfach", "Die Schwierigkeiten des Dr. Thoss", "Die Clownmarionette", "Teatro Grottesco", "Vastarien", "Severini", "Das größere Festival der Masken" und "Tankstellen-Jahrmärkte".
Kürzlich in limitierter und von Ligotti und H. R. Giger signierter Auflage erschien "In einer fremden Stadt, in einem fremden Land", vier exzellente Geschichten in einem exzellenten Hardcover, daß von einem exklusiv von H. R. Giger gestalteten Titelumschlag geziert wird (Rezension in dieser Ausgabe).

Das ist aber im Moment auch alles, was der deutsche Ligotti-hungrige zum Verschlingen bekommt, abgesehen von einer weiteren hervorragenden Story in "H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens, Band 2" (ebenfalls Blitz-Verlag). Zwar ist Ligotti kein Vielschreiber mit ellenlanger Bibliographie, doch einiges mehr hat er schon verfaßt:
"Songs of a Dead Dreamer" (1983), "Grimscribe. His live and works" (1991), "Noctuary, The agonizing resurrection of Victor Frankenstein & other gothic tales" (1994), "The Nightmare Factory" (1996), "In a foreign town, in a foreign land" (1997).
1997 gewann Ligotti schließlich auch den British Fantasy Award und den Bram Stoker Award für die beste Anthologie des Jahres, außerdem erhielt "The Red Tower" den Bram Stoker Award für die beste Kurzgeschichte des Jahres. Eine bemerkenswerte Erfolgsbilanz für die verhältnismäßig geringe "Ausstoßmenge" dieses Autors.

Ob man es nun öffentlichkeitsscheu, zurückgezogen oder schüchtern nennt: Ligotti ist keiner von denen, die durch das Land reisen und Autogrammstunden geben. Thomas Ligotti, geb. am 9. Juli 1953 in Detroit, Michigan, schreibt seine Geschichten mit der Hand, ohne Computer oder Schreibmaschine. Die vergangenen zwanzig Jahre arbeitete er für die renommierte "Gale Group", ein Verlag für Nachschlage- und Sammelwerke zu Literatur- und Literaturkritik.

Und auch, wenn es andere Gerüchte gibt: Thomas Ligotti ist kein Pseudonym für einen anderen Autor, der Mann existiert wirklich!

Wie hat er es aber nun geschafft, eine solche Anhängerschaft zu gewinnen, gleichsam unter Kritikern wie "einfachen Lesern"? Warum nennt ihn Frank Festa in seinem Vorwort in "Teatro Grottesco" einen "Poet der Dunklen Träume"? Wie kommt es zu den Vergleichen mit den Werken Edgar Allan Poes und H. P. Lovecrafts, die häufig angestellt werden?

Zweifellos, und das sagt er auch selbst, haben diese beiden Autoren (und einige mehr) nicht unbedeutenden Einfluß auf sein eigenes Schaffen:
Ligotti: "[diese Schriftsteller] waren Meister in der Beschreibung grotesker Realitäten, oder dem Verzerren des üblichen Weltbildes der realistischen Fiktion. Konzentrierst du dich eher auf eine intimere, persönlichere Art des Erlebens als auf die kollektive Ansicht der Welt, die uns täglich vermittelt wird, dann erscheinen die eigenen Betrachtungen der Realität seltsam und unnatürlich. Die Herausforderung für Autoren wie die genannten ist es, ihre verzerrte oder lediglich intensivere Erfahrung greifbar zu machen.(...)"
(Thomas Ligotti with Stefan R. Dziemianowicz, "The Tom Ligotti Interview" in Tekeli-li! no. 4, Winter/Spring 1992.)

Mit diesen Worten beschreibt Ligotti auch selbst am besten, welche Art von Geschichten er schreibt. Man kann sie abgedreht, psychologisch, kafkaesk, surreal, unwirklich, furchterregend und wahrscheinlich noch vieles mehr bezeichnen, und das alles trifft sicherlich auch zu, zumal der eine Leser andere Empfindungen verspüren mag als ein anderer. In der Thomas Ligotti-FAQ (http://www.longshadows.com/ligotti) wird der Begriff "nihilistische Kurzgeschichte" als zutreffendste Bezeichnung geprägt. Das faßt es in der Tat gut zusammen, denn eines haben Ligottis Geschichten ganz sicher nicht: ein Happy Ending.

Das ganz speziell H. P. Lovecraft einen besonderen, wenn auch nicht unbedingt den größten Einfluß auf ihn hatte, ist kein Geheimnis. Dieser Einfluß bezieht sich aber weniger auf sein Schreiben, als vielmehr darauf, daß Lovecrafts Werke der Auslöser für seine schriftstellerische Karriere für ihn darstellen. Wie Ligotti sagt, "interessiert mich das Übernatürliche nur unter dem erfahrenden Aspekt, als Kraft die unsere Leben zerstört, und als Symbol für den monströsen Wahnsinn in allem Schaffen". Diese Philosophie, inspiriert von Lovecrafts Geschichten, stellt wenigstens einen indirekten Einfluß auf seine eigenen Werke dar. Und natürlich ist es als ehrlichen Tribut an Lovecrafts Schaffen zu verstehen, daß Ligotti durchaus auch die eine oder andere Mythos-Geschichte, klar als solche zu erkennen, vorweisen kann. Das er auch diese dann mit seinem ganz eigenen Touch versieht, spricht für seine Kreativität im Umgang mit dem Unwirklichen und Zerstörenden in unserem Leben.

Übrigens: "Das Tagebuch des J. P. Drapeau" war Bestandteil der legendären Call of Cthulhu-Kampagne "Horror on the Orient-Express"! Eine exzellente Wahl, die ich als Spielleiter noch um "Die Bibliothek von Byzanz" erweitern würde, paßt wunderbar in diese Kampagne...

Ich möchte diese kurze Vorstellung des wahrscheinlich einzigen modernen Autors, der es schafft, bei seinen Lesern echtes, tiefst empfundenes Unbehagen und sogar Furcht zu erzeugen, mit einem kurzen Auszug aus "In einer fremden Stadt, in einem frenden Land" beschließen. Andere als ich haben wesentlich interessantere Essays über Ligotti verfaßt, hier empfehle ich besonders die bereits erwähnten Bücher aus dem Blitz-Verlag. Beste Quellen im Netz, allerdings englischsprachig, sind WWW-Linkhttp://www.longshadows.com/ligotti/ und WWW-Linkhttp://www.viper.net.au/~lwild/ligotti.html.


"Doch wenn ich jetzt in meinem Bett liege, dem Wind und dem Kratzen der nackten Zweige auf dem Dach über mir lausche, bleibe ich wider Willen hellwach, weil ich im Geiste jenes deformierte Gespenst des Ascrobius vor mir sehen und mich frage, auf welchen unvorstellbaren Ebenen der Kontemplation er von einem weiteren Akt der AUslöschung, einem neuen und folgenschweren Experiment voller Kraft und von größerer Dauerhaftigkeit, träumen mag. Und der Gedanke, daß eines Tages jemand bemerken könnte, daß ein gewisses Haus ausgelöscht (oder nicht vorhanden) zu sein scheint an jenem Platz, den es einst in einer Seitengasse einer Stadt an der nördlichen Grenze einnahm, erfüllt mich mit Unbehagen."

Sein Schatten wird zu einem höheren Haus aufsteigen
aus: In einer fremden Stadt, in einem fremden Land
© Thomas Ligotti / Blitz Verlag, Windeck

Ingo Ahrens

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