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Der Nagervon Robert Senkowsky (c) 1999
in verlegenes Räuspern riß O'Grady aus seinen
Gedanken. Er öffnete die Augen und drehte sich um. Vor seinem
Schreibtisch stand sein Assistent, Detective Joe Nettlebeck, und
drehte verlegen seinen Hut in den Händen. Inspektor O'Grady lehnte sich im Fond des Polizeiwagens zurück
und dachte über den 'Nager' nach. Er lachte bitter. 'Der Nager',
der Name, den ihm die Medien gegeben haben, paßte wie die
Faust aufs Auge. Ein Irrer, der Mädchen tötet und sie
auffrißt, sie bis auf die Knochen abnagt, ohne die geringste
Spur zu hinterlassen. Die Spekulationen der Leute auf der Straße
reichten von Außerirdischen, die sich von Menschen ernährten,
bis zu einer Verschwörung der Regierung, lästige Geliebte
diverser Politiker verschwinden zu lassen. Und die Medien zerrissen
die Polizei in der Luft. Wie immer. Aber diesmal ging es nicht um
harmlose Überfälle oder Schutzgelderpressungen. Da draußen
lief ein Irrer herum, der in den letzten drei Jahren mindestens
57 Mädchen und Frauen getötet und verspeist hat. Und hätten
nicht die Stadtwerke wegen sinflutartige Regenfälle ursprünglich
längst geschlossene Röhren der Kanalisation wieder öffnen
müssen, wäre vielleicht nie etwas davon entdeckt worden.
Das Regenwasser durchfloß das vom 'Nager' als 'Speisekammer'
benutzte Abwasserrohr und spülte dabei die Gebeine von 53 Frauen
ins Freie. Zuerst wurde vermutet, die Regenfälle hätten
eine alte Grabstätte freigespült, aber der pathologische
Bericht brachte dann die ganze Wahrheit ans Licht. Keine dieser
Leichenreste war länger als drei Jahre tot. Das Polizeipräsidium
hatte natürlich alles getan, um diese Tatsachen geheimzuhalten,
aber ein windiger Reporter hatte die Geschichte groß rausgebracht.
O'Grady ballte seine mächtigen Hände zu Fäusten und
dachte daran, wie gern er dieser Revolverblattratte den Hals umdrehen
würde, vor allem nach dem Gespräch mit dem Polizeipräsidenten
heute morgen. Der hatte ihm deutlich gemacht, daß er, wenn
der Fall nicht in drei Tagen geklärt ist, O'Grady seine letzten
Jahre bis zur Pension in einer Forschungsstadt in der Antarktis
seinen Dienst verrichten lassen würde. Aber der Inspektor konnte
ihn verstehen. Die Presse hatten sich auf den Polizeipräsidenten
eingeschossen und forderte lautstark seinen Rücktritt. Dazu
kam noch, daß in einigen Tagen die heiße Phase des Wahlkampfs
beginnen würde, und Bürgermeister Sifredis Aussichten
auf eine Wiederwahl mit jedem Fahndungsmißerfolg der Polizei
sanken. O'Grady fragte sich, ob ihn noch der Polizeipräsident
oder schon sein Nachfolger an den Pol verfrachten würde. Denn
die Chancen, daß er den 'Nager' in drei Tagen finden würde,
standen, optimistisch gesehen, bei eins zu hunderttausend. Denn
die einzigen Spuren die bis jetzt von ihm gefunden wurden bestanden
aus Spuren von Schneidezähnen an den Knochen der Opfer und
Tausenden anonymer Hinweise, wo sich der 'Nager' verstecken würde.
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