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Der Nager

von Robert Senkowsky (c) 1999

E

in verlegenes Räuspern riß O'Grady aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen und drehte sich um. Vor seinem Schreibtisch stand sein Assistent, Detective Joe Nettlebeck, und drehte verlegen seinen Hut in den Händen.
"Entschuldigung, Inspektor, ich habe geklopft, aber sie haben mich nicht gehört."
"Schon gut, ich war in Gedanken." Er drehte sich wieder zum Fenster und blickte auf den morgendlichen Verkehr auf der Straße unter ihm.
"Es wurde wieder eine gefunden." O'Gradys Frage war mehr eine Feststellung.
"Ja, Sir. Wir haben die Meldung vor kurzem bekommen, der Hund eines Spaziergängers hat sie gefunden. Wieder an einem Kanalausfluß. Detective James ist bereits auf dem Weg dorthin. Wollen sie den Fundort besichtigen?"
"Ja. Auch wenn es wahrscheinlich wieder keine Spuren gibt."

Inspektor O'Grady lehnte sich im Fond des Polizeiwagens zurück und dachte über den 'Nager' nach. Er lachte bitter. 'Der Nager', der Name, den ihm die Medien gegeben haben, paßte wie die Faust aufs Auge. Ein Irrer, der Mädchen tötet und sie auffrißt, sie bis auf die Knochen abnagt, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Die Spekulationen der Leute auf der Straße reichten von Außerirdischen, die sich von Menschen ernährten, bis zu einer Verschwörung der Regierung, lästige Geliebte diverser Politiker verschwinden zu lassen. Und die Medien zerrissen die Polizei in der Luft. Wie immer. Aber diesmal ging es nicht um harmlose Überfälle oder Schutzgelderpressungen. Da draußen lief ein Irrer herum, der in den letzten drei Jahren mindestens 57 Mädchen und Frauen getötet und verspeist hat. Und hätten nicht die Stadtwerke wegen sinflutartige Regenfälle ursprünglich längst geschlossene Röhren der Kanalisation wieder öffnen müssen, wäre vielleicht nie etwas davon entdeckt worden. Das Regenwasser durchfloß das vom 'Nager' als 'Speisekammer' benutzte Abwasserrohr und spülte dabei die Gebeine von 53 Frauen ins Freie. Zuerst wurde vermutet, die Regenfälle hätten eine alte Grabstätte freigespült, aber der pathologische Bericht brachte dann die ganze Wahrheit ans Licht. Keine dieser Leichenreste war länger als drei Jahre tot. Das Polizeipräsidium hatte natürlich alles getan, um diese Tatsachen geheimzuhalten, aber ein windiger Reporter hatte die Geschichte groß rausgebracht. O'Grady ballte seine mächtigen Hände zu Fäusten und dachte daran, wie gern er dieser Revolverblattratte den Hals umdrehen würde, vor allem nach dem Gespräch mit dem Polizeipräsidenten heute morgen. Der hatte ihm deutlich gemacht, daß er, wenn der Fall nicht in drei Tagen geklärt ist, O'Grady seine letzten Jahre bis zur Pension in einer Forschungsstadt in der Antarktis seinen Dienst verrichten lassen würde. Aber der Inspektor konnte ihn verstehen. Die Presse hatten sich auf den Polizeipräsidenten eingeschossen und forderte lautstark seinen Rücktritt. Dazu kam noch, daß in einigen Tagen die heiße Phase des Wahlkampfs beginnen würde, und Bürgermeister Sifredis Aussichten auf eine Wiederwahl mit jedem Fahndungsmißerfolg der Polizei sanken. O'Grady fragte sich, ob ihn noch der Polizeipräsident oder schon sein Nachfolger an den Pol verfrachten würde. Denn die Chancen, daß er den 'Nager' in drei Tagen finden würde, standen, optimistisch gesehen, bei eins zu hunderttausend. Denn die einzigen Spuren die bis jetzt von ihm gefunden wurden bestanden aus Spuren von Schneidezähnen an den Knochen der Opfer und Tausenden anonymer Hinweise, wo sich der 'Nager' verstecken würde.
Plötzlich bremste der Wagen und der bullige Inspektor wurde abrupt nach vorne geschleudert und knallte mit dem Kopf gegen den Fahrersitz.
"Zum Teufel, Nettlebeck, haben sie den Verstand verloren?"
"Tut mir leid, Sir! Aber die ist mir genau vors Auto gelaufen!"
"Um Himmels Willen, sagen sie mir jetzt bloß nicht, sie haben gerade jemanden überfahren!"
"Nein, Inspektor. Ich habe gerade noch rechtzeitig gebremst. Aber die läuft mir genau vor den Kühler, was soll ich da tun? Da drüben läuft sie."
O'Grady lehnte sich aus dem Fenster und sah in die Richtung, in die sein Assistent gedeutet hatte.
"Die Rothaarige da, Sir. Läuft vors Auto als wäre der Beelzebub persönlich hinter ihr her." Nettlebeck deutete zappelnd auf eine Frau in der Menge.
O'Grady erhaschte einen Blick auf eine rothaarige Frau mit Leopardenfellmantel.
"Fahren sie weiter, Joe." Der Inspektor kurbelte das Fenster hoch und lehnte sich zurück. Er hatte jetzt wahrlich besseres zu tun als hysterischen Frauen nachzulaufen.
"Glück gehabt, daß unser keiner eingefahren ist, Sir." Nettlebeck grinste nervös.
"Ja." O'Grady warf einen nachdenklichen Blick auf seinen Assistenten und fragte sich zum wiederholten mal was ein Typ wie er bei der Polizei suchte. Der Detective war eigentlich der Prototyp eines zerstreuten Professors, mit seinen zerzausten Haaren, der randlosen Brille und dem zerknautschten Regenmantel, der ihm unter Kollegen den Spitznamen 'Columbo' eingebracht hatte. Wahrscheinlich folgte er nur der Familientradition, denn Nettlebeck erzählte immer wieder stolz, daß schon der Vater seines Großvaters Polizist gewesen sei.

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